Die Morphologie ist eine Teildisziplin der Linguistik und beschäftigt sich mit den kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache. Diese “Bausteine” einer Sprache, werden als Morpheme bezeichnet und dienen z.B. zur Beschreibung der Wortbildung und Markierung grammatischer Verhältnisse. Wofür aber brauchen wir den Gegenstandsbereich der Morphologie überhaupt und welchen Nutzen hat die Beschäftigung mit diesen sprachlichen Einheiten überhaupt?!
Deutsche Muttersprachler wissen intuitiv, welche Funktion bestimmte Morpheme im deutschen Sprachsystem einnehmen und können daher ohne große Schwierigkeiten erkennen, dass es sich in den Wörtern Kinder, Schulen, Stifte, Direktoren oder Kulis jeweils um Pluralbildungen handelt. Das es sich in den Beispielen um die Pluralform handelt, wird durch die Flexionsendungen -er, -n, -e, -en und -s kenntlich gemacht. Etwas schwieriger wird es bei Berufsbezeichnungen wie etwa Lehrer oder Hausmeister, weil der Plural ohne morphologische Markierung realisiert wird und ohne syntaktischen Kontext nicht eindeutig zu bestimmen ist. Die Einbettung in Sätze wie etwa “Der Lehrer ist immer so streng” oder “Die Lehrer sind immer so streng” wird der Plural jeweils am Artikel markiert, der dem Nomen Lehrer vorangeht. Der Plural wird am Wort selbst durch ein sog. Nullmorphem {-Ø} realisiert. Ferner gibt es die Möglichkeit, den Plural morphologisch durch Umlautung des Stammvokals zu markieren. Ein Beispiele für die Realisierung des Plurals durch Umlaut ist z.B. die Pluralform von Mutter, nämlich Mütter. Darüber hinaus kann der Umlaut auch mit einem Flexionsmorphem kombiniert auftreten, wie die Beispiele Schulhöfe (in Determinativkomposita das rechte Klied) und Bücher zeigen. Im letzten Fall treten sogar drei unterschiedliche Markertypen auf, um den Plural zu signalisieren. Wird der Plural von das Buch gebildet, zeigen Umlautung (ʊ -> ʏ), Suffigierung (-er) und Artikel (das -> die ) an, dass es sich bei die Bücher um die Pluralform von das Buch handelt.
Die morphologische Markierung des Plurals erfolgt in der deutschen Sprache durch verschiedene Pluralmarker, die zusammengenommen als Pluralallomorphe eines Pluralmorphems bezeichnet werden. Wie wir bei den Markertypen in in den vorangegangenen Beispielen feststellen konnten, wird der Plural durch Suffigierung, Umlautung oder durch den Artikel, morphologisch durch das Nullmorphem -Ø, markiert. Zählen wir die unterschiedlichen Realisationsmöglichkeiten, um den Plural eines Wortes zu markieren, kommen wir auf neun Pluralflexive, die wir im Folgenden kurz illustrieren möchten.
(1) Pluralflexive im Deutschen (nach Wegener 1995a: 12)
-Ø Engel, Balken
-“Ø Brüder, Mütter
-er Kinder, Felder
-“er Wälder, Hühner
-e Hunde, Jahre
-“e Hände, Höfe
-n Ecken, Nasen
-en Banken, Hemden
-s Omas, Autos
Einige dieser Pluralflexive sind nach Wegener (1995) allerdings komplementär verteilt und treten demzufolge nie in der gleichen lautlichen Umgebung auf. Von den Pluralflexiven in (1) sind die Flexivpaare -en und -n, als auch -e und -Ø sowie -“e und -“Ø von der komplementären Verteilung betroffen. Ihr Kontext kann durch die Schwa-Tilgungsregel erklärt werden, die sich nach Wegener (1995) wie folgt zusammensetzt.
(2) Schwa-Tilgungsregel (nach Wegener 1995: 18)
„In allen Fällen wird der Schwa-Laut in der Null-Variante getilgt, wenn in der Endsilbe der Singularform bereits ein /ə/ enthalten ist. Die phonologische Regel bewirkt, daß Substantive die auf die Pseudosuffixe –e, -el, -er, -en auslauten, den Plural nicht mit einem der silbischen Marker –e, -en oder –er bilden können.“
Gemäß der Schwa-Tilgungsregel können die betroffenen Pluralflexive zusammengefasst werden und wir erhalten somit den Pluralmarker {(e)n} mit den zwei Allomorphen {n} und {en}, den Pluralmarker {(e)} mit den Allomorphen {Ø} und {e} sowie den Pluralmarker {“(e)}, bestehend aus den Allomorphen {“Ø} und {“e}. Unter Berücksichtigung der Schwa-Tilgungsregel erhalten wir eine komprimierte Darstellung des deutschen Pluralsystems, das sich aus fünf Pluralmarkern zusammensetzt.
(3) Pluralmarker des Deutschen (nach Wegener 1995: 19)
1)(e)n Banken, Jacken
2)(e) Jahre, Balken
3)”(e) Bärte, Gärten
4)”er Wälder
5) s Omas
Die Morphologie einer Sprache kann im Bereich der Lehre des Deutschen als Fremdsprache auch ein wichtiger Hinweis für die Genusvergabe eines Wortes sein.
Betrachten wir die folgenden Suffixe {-heit} und {-keit} treffen wir bereits auf eine beachtliche Menge morphologischer Termini und dessen Funktion.
<Fortsetzung folgt…>
Emrich, A.L./ Müller, P. (2014): Pluralbildung im Deutschen: Auswertung eines Kunstwort-Experiments. Forschungsbericht am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
Literatur:
Wegener, Heide (1995): Die Nominalflexion des Deutschen – verstanden als Lerngegenstand. Tübingen: Niemeyer Verlag